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Rachegeschichten
Mich fröstelt, und ich halte die Hände über die Kerzen. Ein Regentropfen löst sich vom Ärmel meiner Jacke und fällt auf eine Flamme, die sich kurz duckt und zischt und flackert, bevor sie weiterbrennt wie zuvor. Eine Flamme hat es leicht, zu ihrer Form zurückzufinden. Bei einem Menschen kann es passieren, dass er sich duckt und auf ewig krumm bleibt …
Ich habe nie jemandem erzählt, was damals passiert ist, nicht einmal mir selbst. Ich dachte, es wäre alles verschwunden, irgendwo zwischen Leber und Galle versickert oder vom Lauf der Jahre zu Staub zermahlen. Aber hier, beim Kerzenschein und unter den Augen Marias, kommt alles wieder. Der Weihrauch ist schuld. Er ködert die Erinnerungen. Wie eine Meute hecheln sie aus der Vergangenheit ins Jetzt und fallen über mich her: Johannas Lächeln, die blauen Ringe, das Kirschenessen, der Brief; die Sehnsucht, die Gemeinheiten, die Liebe. (…) Nein, muss ich das wirklich alles wiedererleben? Ich komme nicht gegen die Bilder an. Wir saßen im Kreis auf der Wiese. Es war Juni und warm, ich strich über das Gras, es kitzelte an meinen Handflächen. Irene öffnete die Tüte mit den Kirschen, biss eine entzwei und verzog den Mund: zwischen den beiden Kirschhälften wand sich eine Made. »Ach«, sagte Johanna enttäuscht. Sie aß so gerne Kirschen. Sie öffnete die nächste und noch eine und noch eine: In jeder tummelte sich eine Made. Drei Kirschen warf sie weg, die vierte hielt sie mir hin: »Iss du sie!«
Ich lächelte nervös und schüttelte vorsichtig den Kopf.
»Komm schon!«
Auf alles war ich vorbereitet gewesen: Überschwemmungen, Erdbeben, Feuersbrünste, aber nicht auf Maden. Ich nahm die Kirsche und aß sie.