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Leseprobe aus Die Liebesgesänge der Phoenix Bay:
Damals, als sie sich kennenlernten, hatten sie noch alle Zeit der Welt, genug, um eine Decke daraus zu weben und die Sonne darin einzuhüllen. Phoenix war bezaubert von dem gutaussehenden jungen Mann, der sich nicht für Politik interessierte, der Milton las, auch wenn es keine Pflichtlektüre war, und mit volltönender Stimme Chaucer rezitierte. Rennie war nicht nur der bei weitem cleverste Typ, dem sie je begegnet war, sondern auch der erste, der sich einen Dichter nannte. In ihrer Welt aus Tagebau und Maisfeldern bekannte sich kein Mann dazu, ein Gedicht auch nur zu lesen, geschweige denn den Wunsch zu verspüren, eines zu schreiben. Allein das betrachtete sie als Zeichen höchsten Mutes.
Eines Nachmittags im Frühling brachte er Cecelie mit an das Ufer des Michigansees, wo Phoenix den ganzen Morgen an einem Gedicht über unerwiderte Liebe gesessen hatte, das die Klitoris höchst sentimental und lächerlich eindeutig mit einer Rosenknospe verglich. Lesben, die sich nicht ganz sicher waren, ob sie Lesben sein wollten, die immer noch dachten, dass sie eine Wahl hätten, machten damals so etwas. »Warten, die Leidenschaft der Einsamen«, lautete die erste Zeile. Den Rest hatten die Jahre gnädigerweise aus ihrem Gedächtnis getilgt. Sie hatte Rennie nicht kommen hören, war aber auch nicht überrascht, als er sich neben ihr auf dem Felsplateau niederließ.
»Phoenix, ich habe dir eine neue Freundin mitgebracht. Meine Schwester Cecelie. Sie besucht die Uni von L.A.« Er war begeistert. Cecelie war schüchtern. Phoenix war von dieser Frau, die Rennie so ähnlich sah, vollkommen überwältigt.
Rennie schnappte sich das Gedicht und runzelte die Stirn. »Kitsch!« Er knüllte es zusammen und warf es ins Wasser, wo es einen Augenblick auf der Stelle zitterte, bevor es davondümpelte. »Alle, die auf die Leidenschaft warten, verdienen es, einsam zu sein. Denk mal darüber nach.«